Wenn Welten aufeinander prallen!
GROSS ist auch LA CAPITAL BUENOS AIRES. - Während wir nun über sechs Wochen in Landschaften und tiefer Pampa ausschliesslich Horizonte und Wolken, ab und an auch Schafe, Pferde, Kühe, Guanacos, Nandus und Kondore, gegen Schluss vermehrt Eisberge und Gletscher ausmachen konnten, katapultiert uns die Grossstadt (mind. 15 Mio Einwohner) in eine tatsächlich andere Welt. - Die gute Luft "buenos aires" hatten wir in Patagonien (zeitweise horizontal und mehr als uns lieb war), Wolken werden teilweise gekratzt, den Horizont müssen wir suchen; sollten wir den Ausdruck "der Horizont ist gar eng" nicht gebrauchen wollen. - Wir haben ein tolles Aparto in einem spannenden Quartier und richten uns häuslich ein. Zehn Tage den porteños (Einwohner der luftigen Stadt) auf den Fersen, ... teils mittels Spaziergänge (länger als zwei Stunden = GROSSStadt!), teils mittels Tangoschritten, ... teils sprachlich fein die Unterschiede generierend, ...! - Ein umfassender Genuss, wenn auch gleichzeitig ein Kulturschock. - PS: Die ersten drei Tage / Nächte sind tropisch: 34 Grad am Tag, 28 - 30 Grad nach Mitternacht. Was machen wir bloss mit all unseren Merino-& Windstoppermaterialien?
les porteñes
Gross ist la capital de Buenos Aires !
Gross sind die Unterschiede der Quartiere (barrios) bezüglich Aussehen, Infrastruktur, Beschäftigungsgrad & entsprechend Lebensstandards (… was nicht mit der Ausstrahlung an Lebensfreude verwechselt werden darf). - Gross zudem auch die Wirtschaftskrise, welche viele porteños zwingt, sehr kreativ zu sein. Wenn die Strom- und ÖV-Preise über Nacht steigen, die Inflation alle Preise ins Unermessliche ansteigen lässt, braucht es viel, um nicht Opfer der Krise zu werden. Die Krise ist sichtbar, spürbar; die Hoffnung, dass sich die Situation bald ändern könnte, auch.
Gross und zahlreich sind die Grünflächen und von Bäumen gesäumten Strassen & Alleen. EXKURS: «Buenos Aires» geht allerdings nicht auf den hohen Sauerstoffgehalt in der Stadt zurück, wohl aber auf die Geschichte der Hafenstadt. Da alle Immigranten & somit heutigen «portenõs» (Buenos Aireser geht ja nicht!) «buenos aires» brauchten, um den Atlantik zu überqueren und die Stadt zu erreichen, blieb dieser Ausdruck an der Stadt haften. – Wir jedenfalls schätzen nicht nur die Brise vom Meer, auch die mächtigen & schattigen Laubdächer der zum Teil über 150 Jahre alten Bäume.
Gross und laut das Engagement für politische und gesellschaftliche Anliegen, um vom Staat, mitunter von der aktuellen Regierung, verursachte Missstände anzuklagen, zu beseitigen. Insbesondere gross ist das Engagement der Feministinnen, vielleicht eher der Frauen. Sie kämpfen um Grundrechte, gleichzeitig sind wir überrascht, dass sich in der Sprache ein Neutrum etabliert, welches den (in allen lateinischen Sprachen gängigen) «machismo» aufhebt: nuestros amigos (m) / nuestras amigas (f) / NEU: nuestres amiges (unisex). – Eine solche Sprachform hätten wir eher aus Schweden als aus Argentinien erwartet.
Ebenfalls gross ist die Selbstständigkeit, mit der wir uns in dieser Metropole bewegen. Ruhig und geregelt. Zu Fuss, mit, Bus Subte & Taxi. - EXKURS: «Geregelt» und «geordnet» sind Attribute, welche wir von den porteñEs zu hören bekommen, wenn geklärt ist, woher wir kommen; gross ist das Ansehen unseres Landes in dieser Grossstadt. – Geduldig erleben wir die porteñes: Fährt die Subte nicht weiter, warten die Passagiere a. bis endlich eine Durchsage (ohne eigentliche Ansage) erfolgt und b. schliesslich die Subte wieder weiterfährt. Oder läuft wieder einmal (fast täglich) eine riesige (!!) Menschenmenge demonstrierend durch die Strassen, warten Busse, Taxis und Autos geduldig in den verstopften (Quer-)Strassen. Äusserst selten sind Hupen zu hören; wenn, dann sind es Sirenen von Polizei, Ambulanz oder Feuerwehr.
Wir fühlen uns wohl! – Nicht zuletzt deshalb, weil wir in unserem gemütlichen AirBnB eine Art Alltag leben, welche uns vergessen lässt, dass wir am Reisen sind. Einen Schwatz im Lebensmittelladen, einen weiteren beim Friseur, … Die Nachbarn im Haus und die regelmässigen Sprach- und Tanzstunden tragen ebenso dazu bei. – Dass wir schliesslich am Samstag zu einem Fussballspiel (Atlético Huracan, auch «Globo» oder «Queremo» genannt vs. Union Santa Fe) gehen, ausschliesslich mit Fans der Heimmannschaft, macht uns unheimlich einheimisch. – Leider verlieren WIR dieses Spiel, die erste Heimniederlage seit einem Jahr. Das Spiel ist nicht die Hauptattraktion; die Fans, ihre Gesänge und ihre Emotionen dafür umso mehr.
los barrios
Gross ist die Leidenschaft für den Tango! – Nein, nicht jeder porteño tanzt Tango. Wer aber tanzt, der macht es aus und mit Leidenschaft. Tango tanzen, das wird in den Milongas klar, ist eine Lebensart, viel mehr als ein Hobby oder gar ein Sport. – Wer in der Milonga auftaucht, spürt und lebt Tango vom Scheitel bis zur Sohle; zumindest für genau diese Stunden in der Milonga.
Tango sieht man überall, es ist (wie Schoggi und Käse in der Schweiz) ein Tourismusmagnet. Auf den Strassen, auf Plätzen, in Cafés und Bars, … überall tanzt ein Paar & verdient sich so einen Zustupf. Tangoshows (oft verbunden mit Abendessen) werden Touristen ebenfalls verkauft. – Milongas (Tanzveranstaltungen mit / ohne live Musik) finden in Quartieren statt. – In unserem Quartier finden wir einen Veranstalter, der für alle Niveaus unterrichtet & anschliessend, je fortgeschrittener der Abend, desto fortgeschrittener das Niveau, zum Tanz bittet. Wir sind glücklich, dass wir so unverkrampft Unterricht & Übung haben, gleichzeitig die Einheimischen mit ihren Künsten bewundern können. Diese haben mit den Shows auf der Strasse wenig zu tun; es ist der bereits erwähnte Tango als Lebensart.
AMÜSANT: Unsere erste Milonga besuchen wir in einem anderen Quartier. Wir sind zu einer «Milonga Matinée» verabredet… & planen den Tag so, dass wir uns den Vormittag (so ab 11 Uhr) freihalten, den Abend wieder verplanen. – Falsch gedacht! «Milonga Matinée» beginnt frühestens (!) um 18.30!!! – Das vornehmlich ältere Publikum (Silberrücken der alten Schule) beginnt den Milongaabend. Das Niveau ist bei diesem eingespielten Stammpublikum hoch bis sehr hoch; feiner Tango … nach feinen Regeln. – Wenn das also «Matinée» ist, dann beginnt ein leidenschaftlicher porteño jüngeren Alters ab drei Uhr morgens seine Runden zu ziehen. – Wen wundert es dann, wenn la capital morgens um acht noch im Tiefschlaf, die Stosszeiten der Subte auf zehn Uhr angelegt sind.
AMÜSANT: PROLOG_Wir sitzen in der Milonga Matinée, die Silberrücken am Tanzen. Als ebenfalls Silberrücken und zumindest Silbersträhne dürfen wir bei den Herren am Tisch Zaungast sein. Unser Outfit, nur ein bisschen underdressed, die Schuhe ganz daneben! NIE würden wir uns auf die Tanzfläche getrauen, nicht zuletzt wegen der bisher genau drei gelernten (noch nicht sattelfesten) Figuren und Schrittfolgen. Also Beobachter. Als solche spielt sich vor uns nun ein unglaublich liebenswertes Theater ab. – SZENERIE_Ein rechteckiger Saal; in der Mitte eine ebensolche Tanzfläche. Paare, welche sich wiegend, schreitend, jedenfalls im Takt und Gegenuhrzeigersinn über diese Fläche bewegen. Rund um die Tanzfläche kleine, runde Tischchen mit max. drei Stühlen, in drei Reihen dicht gedrängt. Seitlich der Längsflächen die Damen rechts, die Herren links. Am Kopf die Paare, welche ausschliesslich als Paar tanzen möchten. Am Fuss weitere Tische, sollten die Seiten überfüllt sein. Wenn also ein Paar gemeinsam kommt, gerne aber je auch mit anderen Tanzpartnern tanzt, ist die Sitzordnung getrennt. – SPIEL_Es ist ein Spiel. Ein gekonntes Spiel mit Charme, Können, machismo… & ganz klaren Regeln. Wer den Raum betritt, bekommt einen Tisch zugeteilt. Die letzten Vorbereitungen passieren allerdings in der Garderobe: die Tanzschuhe anziehen! Wer den Raum betritt, hält eine Tasche mit den Tanzschuhen in der Hand. (Anmerkung: Mich erinnern die Taschen an meine Finkensäckli in der Primarschule. Entweder trug ich Finken oder aber meine Geräteschuhe in die Schule, resp. nach Hause. – Wenn ich heute durch die Strassen BA spaziere, erkenne ich die Säckli und entsprechend die Tangotänzer von Weitem.) – Die Aufforderung zum Tanz ist ganz subtil: Ein leichtes Kopfnicken z.B. des Herrn wird mit einem ebensolchen der Angefragten bestätigt. Erst dann erhebt sich der Mann, schreitet über die Fläche und fordert die Dame zum Tanz auf. Wird der «cabeza» ignoriert, ist das eine Absage. Der Mann braucht gar nicht erst aufzustehen, um sich von der Dame einen Korb zu holen. – Danach gibt es drei, resp. vier aufeinanderfolgende Tänze, welche mit dem gleichen Partner getanzt werden. Nach jedem Tanz eine kurze Pause, damit man Konversation machen kann. Achtung, leichte Konversation, keine Politik, nichts Heikles oder Persönliches. – Nach dem Set verschwindet jeder wieder auf seiner Seite. – Wir sind begeistert, staunen über den Ablauf, die Paare, die Schrittfolgen, die nonverbale Kommunikation, die Leidenschaft, … den Tango als Lebensart.
AMÜSANT: Insbesondere auf der Seite der Damen huschen vor einem neuen Set Brillen auf die Nasen, damit die winzigen Winke begehrter Häupter wegen Kurzsichtigkeit nicht entgehen. Sobald die Aufforderung erfolgt, verschwinden die Zaubergläser wieder in den Handtaschen, bei den Männern in den Taschen der Bundfaltenhosen.
EXKURS_Wer sich den Film «Le Bal» (1983, von Etore Scola) je zu Gemüte geführt hat, kann unser Amüsement der eben beschriebenen Szenen umso mehr nachvollziehen. – Ein Genuss.
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Terry Blum (Dienstag, 05 März 2019 15:43)
ES ist herrlich von euch hier zu lesen und mit euch mitzureisen und mitzutanzen!!! Ach so schön beschrieben... eine Augenweide!!
Euch weiterhin viel Spannendes... herzlich Terry & Peter